Auf dem Plateau der Musen

Die alten Sprachen gelten oft als „tote“ Sprachen. Daß sie sehr lebendig sind, zeigt der Blick in die Texte der griechischen und lateinischen Klassiker.

Auf dem Plateau der Musen

Beitragvon Alltag » Sa 27. Apr 2024, 13:27

«Lass mich das vorweg in die Runde sagen, weder lügen die
Musen noch sagen sie die Wahrheit, wie es ihnen gefällt.
Sondern die Männer vom Lande unterstellen es,
- besonders jenen mit runden Bäuchen -
Falsches bewusst so zu sagen, dass einer es fürs seines hält.
Oder aber bei einem Wunschkind bewusst Wahres zu sagen
und zu feiern.» (Hesiod, Theogonie, Verse 24 bis 28)

Seit Franz am Olymp übernachtet hat, ist er ganz Ohr und von allem verzaubert, was über die Musen zu vernehmen ist. Das ging so weit, dass er mit elektronischer Hilfe sich über die Originaltexte hermachte und wie oben seine eigenen Deutungen kreierte. Das versteht, wer je im Frühling durch Griechenland reist und den Blick kaum lassen kann vom schneeweissen Olymp.

Es war Ostern 2012, eine Gruppenreise im halbvollen Reisebus der Königsklasse und daher mit rundum freier Sicht. Ganz begeistert fasste Blanka den Entschluss, nächstes Jahr das fast Dreitausend Meter hohe Massiv zu erwandern. Franz zog mit und kündete an, dafür in den Alpen zu trainieren. Sein berggängiger Arbeitskollege Benno B. gab den Tipp, «Nicht mehr als ein Dutzend Kilo darf’s sein, jedes weitere Kilo schlägt in den Rücken und auf die Gelenke». Blanka und Franz wanderten viel und machten im Spätsommer im Wallis die Hauptprobe von Saint-Luc nach Sankt Niklaus. Mit leichtem Gepäck am Rücken ging’s über zwei hohe Pässe. Dazwischen erholten sie sich im Hotel in Gruben und bei V. O., Blankas Arbeitskollegin im Turtmanntal. Franz mähte bei ihrem Feriengaden den kleinen Umschwung mit der nigelnagelneuen Sense. Die Nachbarn zeigten sich schadenfreudig über den Üsserschwiizer. Vergebens! Denn die schulterhohen Gräser und Blumen vielen Schritt für Schritt und Zug für Zug links an die Walme. Franz kannte den Trick von Edi Senior, man zieht die Sense von links aussen dem ungeschnittenen Gras entlang sanft über den Boden, rechts angekommen, schiebt sich der linke Fuss um seine halbe Länge vor und dann kommt der Schnitt von rechts nach links, das Gras fällt auf die Sägeze und dann an die Walme, der rechte Fuss geht um die halbe Länge vor, die Sägeze wie beschrieben, das stehenden Gras schüttelnd den Boden ergründend zurück. Die neugierigen Nachbarn zogen sich enttäuscht auf ihre Verandas zurück.

Im Sommer 2013 war es so weit. Unter der Leitung von Makis Logiotatidis ging’s von Lithochoro, fast auf Meereshöhe, in drei Etappen zum Nebengipfel Skolio aber nicht wie geplant knapp unter den Gipfeln durch auf das Plateau der Musen, sondern wegen der vereisten Passage zurück zu der Berghütte A. Das Mittagessen nahmen sie auf der Terrasse ein, inmitten der wie im Wallis mächtigen Föhren. Danach stiegen sie hinauf zum Plateau der Musen. Siebzehn-Hundert Meter Aufstieg in einem Halbtag brachten Blanka und Franz nahe ans Limit. Dank Makis Intervention per Mobilphone nahm der Hüttenwart Christos Kakalos wenige Stunden vorher seine Berghütte zum Saisonstart auf dem Plateau in Betrieb, die Mulis brachten den ganzen Hausrat nach oben und traten soeben den Rückweg an. Seine Muse, sie hätte der Korenhalle auf der Anhöhe über Athen entstiegen sein können, brannte darauf ihr Kletterkünste am Thron des Zeus zu verfeinern.

Ein kurzer Abendspaziergang auf dem Plateau führte um eine riesige Doline mit sanftem Abhang herum, an den Nordhang des Olymps, zu einem lehmigen, unbegehbaren, grässlichen Abgrund. Seither ist Franz überzeugt, dass der Text über die Musen am Olymp in Hesiods Theogonie als Orts- und Reisebeschreibung zu lesen ist. In Vers 114 ist zu vernehmen, dass, die Musen schon vor zweitausend siebenhundert Jahren am Olymp seit eh und je Häuser hielten. Daher vermutet Franz, dass in den Ohren der Leute vom Land auch an andere Textstellen die ganz alltäglichen und gewöhnlichen Sorgen von damals herauszuhören sind. Franz besuchte sogar einen Altgriechisch Kurs. Er konnte zwar verstehen, dass nebst den heiligen Übersetzungen seine profanen rätsellosen Deutungen uninteressant waren, ‘beglückte’ aber dennoch die Altphilologen mit seinen Ergüssen, die um ihres eigenen Rufes willen sie nicht wirklich wertschätzen durften.
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Re: Auf dem Plateau der Mussen

Beitragvon Alltag » Sa 27. Apr 2024, 13:33

Zu Hesiods Zeiten erfolgte eine Niederschrift mit Majuskeln in lückenlos gefüllten Zeilen - daher sah Vers 115 mit vierunddreissig Zeichen so aus
ΗΞΑΡΧΗΣΚΑΙΕΙΠΑΘΟΤΙΠΡΩΤΟΝΓΕΝΕΤΑΥΤΩΝ
sodass mangels distinguierender Worttrennung sowie mangels Satz- und Lesezeichen die Texte mehrdeutig waren. Möglicherweise hat Hesiod diesen äusserst vagen Vers in gestenreicher «Slam Poetry» mehrmals wiedergegeben, so etwa mit verstellter Stimme im Duett am Tresen bei der Muse, mit der er leicht gestelzt anbändelt, «Aber erzählt vorher von eurer Herkunft.»
Und sie entgegnet lachend in die Runde, «Zum Anfang sagt, was jedem vor allem selbst dazu einfällt.»
Er gestikuliert, «Am Anfang - lasst hören - sind zur Stunde der Geburt die Schreie.»
«Deren Ursache ist aber vorher bei der Zeugung das Stöhnen», erwiderte sie und zieht die Nummer von Jane Birkin und Serge Gainsbourg am Tresen durch. - Wer wollte widersprechen, dass am Anfang bei der Geburt Schreie sind, deren Ursache aber im Stöhnen bei der Zeugung liegt.

Nach solchen Eskapaden hält der Altphilologe, nicht ohne Schalk Sinn und Entschlossenheit, Einkehr mit der heilversprechenden Frage,
«Über den Ursprung, aber sagt, was als erstes entstand.»
Zuletzt geändert von Alltag am Sa 27. Apr 2024, 13:56, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Auf dem Plateau der Mussen

Beitragvon Alltag » Sa 27. Apr 2024, 13:45

Wo sind wir stehen geblieben? - Makis weckte seine Gruppe früh am Morgen, weil sich der Abstieg am vierten Tag in die Länge zieht. Franz und Blanka werfen einen Blick über das Plateau zurück und zücken den Fotoapparat. Auf dem Foto ist die Berghütte der Nippel des breit-busigen Plateaus, dahinter thront in der gelben Morgensonne goldig Stephani, links zeichnet sich die Passage an der Südflanke ab und rechts an der Nordflanke der Abgrund ins bodenlose.

Hesiods Ortsbeschreibung lautet,
«jedoch ferner das breitbrüstige Plateau; der ewig standfeste Sitz aller Unsterblichen, die die Gipfel des schneebedeckten Olymps halten; ferner die beiden nebligen Abgründe, ins Erdinnerste, längs der Passage». [Vers 117-9]
Überspringt man diesen Text als ‘ex constructiones’, so sind bei Hesiod Chaos und Eros thematisch verbunden,
«Gewiss als allererstes erweist sich zwar Chaos aber auch Eros» [Vers 116 und 120],
wie sonst wäre aus dem allerersten Zustand namens Chaos herauszukommen? Konzeptionell sieht Hesiod, wie schon Aristoteles vorschlägt, Eros als Eigenheit des Chaos, das dadurch entwicklungsfähig ist.
Wer im Anschluss an die Bergwanderung noch Badeferien auf Chalkidiki macht, sieht möglicherweise über die Bucht von Thessaloniki hinweg, wie Zeus am Olymp wütet. Wegen der grossen Entfernung ist vom Donner nichts zu hören, umso imposanter ist das Toben des Wettergottes als Wetterleuchten zu sehen. Ob danach der Schnee weg war und der Fels frei für die kletternde Muse des göttergleichen Hüttenwarts? Wie dem auch sei, ab da sind die Augen aufs Meer gerichtet.
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Re: Auf dem Plateau der Mussen

Beitragvon Alltag » Sa 27. Apr 2024, 13:46

EXKURS: Auf Satellitenbildern ist im Zentrum der beschriebenen Doline auf dem Plateau der Musen eine rechteckige Fläche zu erkennen, die Franz als Tempelstandort deutete. Doch eines Tages entdeckte er auf Google in der nicht enden wollenden Bilderreihe zur Berghütte Christos Kakalos ein kommentarloses Foto, das von oben ein von Bergsteigerseilen gesichertes, rechteckiges Schneefeld zeigte, das offensichtlich die Sommergäste faszinierte. Besucher waren drauf zu sehen, die bereit waren sich über die rundum senkrecht stehenden Felswände auf den beschatteten Beinahe-Gletscherfirn hinunter abzuseilen.
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Re: Auf dem Plateau der Mussen

Beitragvon Alltag » Sa 27. Apr 2024, 13:53

«Eros dieser Allerschönste unter den unsterblichen Göttern nimmt sowohl all den Göttern als auch all den Menschen
– tiefentspannt im kleinen Tod der Liebe –
Einsicht und weisen Rat.» (Hesiod, Theogonie, Vers 120-2)

Eros befreit von Bedenken, Sorgen, Erinnerungen und beglückt. Nach einem solchen Ansturm der Sinne ist der Kopf geleert, sodass unvoreingenommenes Fragen und Antworten möglich und nötig ist.

Warum legt Hesiod wert darauf, dass er wie Hirten auch draussen Hauste, wenn nicht, um auf ein weiteres nächtliches Erlebnis hinzuweisen. Wir können es nachvollziehen, indem wir die damals kalendarisch bedeutenden Mondphasen, den vor den Gestirnen am Nachthimmel wandernden Mond und im Besondern das Mondgesicht beobachten. Das Mondgesicht dreht sich im Verlauf der Nacht, und zwar gerade so, dass es am Morgen den liegenden Hirten in derselben Richtung anlacht, wie am Abend beim Stehen. - Lieber Leser prüfe es selbst, indem du den untergehenden Mond zuerst aufrecht betrachtest und dann am Morgen mit schräg gestelltem, also fast liegendem Kopf das untergehende Mondgesicht entdeckst. Was hat sich nun gedreht, der Mond oder der Kopf? Gewiss die Erde vom Abend bis zum Morgen!

Für Franz beginnt der Hauptteil der Theogonie erst mit den Versen 123ff, die nicht nur durch ein klares Bekenntnis zur Liebe das mit Aristoteles postulierte Konzept bestätigen. Naheliegend ist auch die Bedeutung von Gaya als die Hervorbringerin, ohne Mutter zu sein! Der Himmel und der Tag werden gemäss Vers 124 zur Welt gebracht, wobei das «wie und warum» wie Folgt erörtert wird,
«Zum Chaos gehören die Unterwelt, das Finstere, und auch die Lager der Nacht. Aus ihr stammen Himmel und Tagesanabruch; Bring die in der nahen Dunkelheit in Liebe vereint Empfangenen hervor! Die Erde, Gaia, brachte gleich mit sich den gestirnten Himmel hervor, der sie rundum ganz umhüllt, auf dass den seligen Göttern ein niemals wankender Sitz sei.» [Vers 123-128]

Wie kann der Himmel die Erde rundum ganz umhüllen? Gibt es deutlichere Hinweise darauf, dass für Hesiod die Erde keine Scheibe war. Der Kernschatten der Erde ist die Unterwelt, das Finstere und das Lager der Nacht.
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Re: Auf dem Plateau der Mussen

Beitragvon Alltag » Sa 27. Apr 2024, 13:55

(õ,õ)
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Re: Auf dem Plateau der Musen

Beitragvon nauplios » Sa 27. Apr 2024, 17:22

Wenn sich in britischen Castingshows etwas Außergewöhnliches ereignet, etwas, das alles bislang Dagewesene in den Schatten stellt, dann lautet die Formel für die Bewunderung der Zuschauer meistens: "OH MY GOD!"

Ins Deutsche übertragen, könnte man auch sagen: "Holla die Waldfee!". ;)

Ich bin ein wenig erschlagen von diesem Forums-Einstand, Alltag. Ich muß mir das noch näher anschauen. Aus dem Stand heraus kann ich nichts dazu sagen, aber ich denke, in der kommenden Woche kann ich auf Hesiod ein wenig näher eingehen.
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Re: Auf dem Plateau der Musen

Beitragvon nauplios » So 28. Apr 2024, 20:01

Alltag hat geschrieben:
«Lass mich das vorweg in die Runde sagen, weder lügen die
Musen noch sagen sie die Wahrheit, wie es ihnen gefällt.
Sondern die Männer vom Lande unterstellen es,
- besonders jenen mit runden Bäuchen -
Falsches bewusst so zu sagen, dass einer es fürs seines hält.
Oder aber bei einem Wunschkind bewusst Wahres zu sagen
und zu feiern.» (Hesiod, Theogonie, Verse 24 bis 28)



Interessant ist ja insbesondere diese Stelle:

ἴδμεν ψεύδεα πολλὰ λέγειν ἐτύμοισιν ὁμοῖα,
ἴδμεν δ' εὖτ' ἐθέλωμεν ἀληθέα γηρύσασθαι."

"Wir verstehn, viel Falsches zu sagen, das Wirklichem gleichet,
Wir verstehen jedoch, so wir wollen, zu künden auch Wahrheit."

Raoul Schrott übersetzt:

wir wissen viele Lügen zu verbreiten glaubhaft wahr
wir können aber auch wenn wir wollen wahres erklingen lassen


Über die Dichterweihe, die man ja nicht nur bei Hesiod in der Theogonie findet, sondern auch im Lehrgedicht des Parmenides, haben wir uns schon mal im "Bibliotheksturm" unterhalten, oder? Man findet sie in vielen Dichtungen der Antike. Das ist eigentlich nichts Ungewöhnliches im griechischen Epos. Aber diese Musen, von denen Hesiod im Proömium spricht, können sowohl lügen als auch die Wahrheit sagen. Und sie können die Lüge als Wahres erklingen lassen.
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Re: Auf dem Plateau der Musen

Beitragvon nauplios » Mo 29. Apr 2024, 12:32

Folgt man der Interpretation der Theogonie durch Raoul Schrott, dann hat die Mehrzahl der Gottheiten, die Hesiod nennt, einen orientalischen Ursprung. Und für die Musen hat er diese Verbindung in der asiatischen Gottheit Hepat-Musuni gesehen. In der Mythologie der Hethiter war Hepat (auch Hebat) die Frau des Wettergotts Teššub. Hepat wurde vornehmlich an Quellen, Flüssen und Bergen verehrt. Berge hatten in der altorientalischen Mythologie etwas Numinoses; sie waren der Sitz von Gottheiten und bildeten oft die Kulisse für Kämpfe der Götter untereinander. Den Helikon nennt Hesiod denn auch gleich zu Beginn ζάθεόν (gotterfüllt). Der Helikon ist erfüllt mit göttlicher Macht.

Ähnlich verhält es sich mit Quellen. Auch die Quellen galten den Hethitern als numinose Orte, an denen den Göttern geopfert wurde. Am Helikon gibt es die Hippokrene, die oft als „Rossquelle“ (ἵππου κρήνη) bezeichnet wird. Hesiod erwähnt sie gleich im Vers 6 (ἠ' Ἵππου κρήνης ἠ' Ὀλμειοῦ ζαθέοιο). Solche Quellen sind Schnittpunkte zur Unterwelt, zu den chthonischen Kräften, die von dort ihre Botschaften schicken.
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Re: Auf dem Plateau der Musen

Beitragvon Alltag » Mo 29. Apr 2024, 23:21

nauplios hat geschrieben:Über die Dichterweihe, die man ja nicht nur bei Hesiod in der Theogonie findet, sondern auch im Lehrgedicht des Parmenides, haben wir uns schon mal im "Bibliotheksturm" unterhalten, oder? Man findet sie in vielen Dichtungen der Antike. Das ist eigentlich nichts Ungewöhnliches im griechischen Epos. Aber diese Musen, von denen Hesiod im Proömium spricht, können sowohl lügen als auch die Wahrheit sagen. Und sie können die Lüge als Wahres erklingen lassen.

Genau das macht mich stutzig. Durch diese Deutung werden doch die zuvor hochgelobten Musen diskreditiert. Da stimmt etwas nicht! Mein Übersetzungsversuch korrigiert das, indem Wort für Wort dem Text gefolgt wird, wobei Geschlecht, Fall, Zahl, Zeit und Reihenfolge möglichst genau beachtet werden, ebenso die Vermerke im LSJ zu den entsprechenden Versen der Theogonie.
[24] Dies hier aber meinerseits vorweg in die Ränge gegen den Spruch
[25] im Lied der Spiele, für die Tochter des mächtigen Zeus, sage ich jetzt:
[26] «Schäfer unter freiem Himmel, unterstellen – dicke(n) Bäuche – besonders,
[27] bewusst sehr viel Falsches sagen, sodass ich’s für Leibhaftig werdend halte,
[28] oder ob bewusst, falls erwünscht, schon jetzt zu feiern wäre.»
Theogonie Vers 24-28

... Für ποιμένες ἄγραυλοι übersetze ich Schäfer unter freiem Himmel denke aber auch an Leute vom Land. Für κάκ' ἐλέγχεα übersetze ich beleidigende Vorwürfe in der Bedeutung etwas jemandem unterstellen. Dicke Bäuche für γαστέρες. Und besonders für οἶον. Zudem deute ich ἴδμεν als gewusst respektive bewusst. Ich setze für δ' εὖτ' ἐθέλωμεν so wir willens wären und denke auch an falls erwünscht. Dadurch ist in den Versen 24 bis 28 die ganz profane und gewöhnliche Sorge der Leute vom Land zu entdecken, besonders, ob die nichtmehr gertenschlanke Muse schwanger sei oder doch nicht, sowie ob die diesbezügliche Ankündigung schon Anlass zum Feiern gibt.

Beim Lesen der altgriechischen Verse habe ich lange zeit Regieanweisungen vermisst. Die Verse wurden im Theater vorgetragen. Geht das ohne Regieanweisungen, ohne Vermerk auf eine Geste?

Hesiod, beispielsweise gewann am Dichterwettbewerb in Chalkis den ersten Preis im Stechen. Doch wie ging das? Für den Donator war es eine Ehre den Wettbewerb zu lancieren. Ich denke es gab ein Vorsprechen, das wir heute Casting nennen, und das dazu dient die Spreu vom Weizen zu trennen. Die durch das Preisgeld verlockten Witzeklopfer und Geschichtenerzähler müssen in einer kurzen Darbietung übertrumpft werden. Das Publikum muss angeheizt werden, denn es entscheidet. Hesiods «besonders die Dicken» kommen das in Spiel: Der Rhapsode wirft seine linke Hand ins Kreuz, schiebt den dicken Bauch vor und streichelt ihn mit der rechten, wie eine in den letzten Wochen Schwangere. Und schon hat er die Matrosen und Männer von Stadt und Land in den Publikumsrängen im Sack, ohne die Ernsthaften und Strenggläubigen unter den Preisrichtern zu brüskieren. (õ,õ)
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Re: Auf dem Plateau der Musen

Beitragvon nauplios » Di 30. Apr 2024, 19:38

Alltag hat geschrieben:
Beim Lesen der altgriechischen Verse habe ich lange zeit Regieanweisungen vermisst. Die Verse wurden im Theater vorgetragen. Geht das ohne Regieanweisungen, ohne Vermerk auf eine Geste?

Hesiod, beispielsweise gewann am Dichterwettbewerb in Chalkis den ersten Preis im Stechen. Doch wie ging das? Für den Donator war es eine Ehre den Wettbewerb zu lancieren. Ich denke es gab ein Vorsprechen, das wir heute Casting nennen, und das dazu dient die Spreu vom Weizen zu trennen. Die durch das Preisgeld verlockten Witzeklopfer und Geschichtenerzähler müssen in einer kurzen Darbietung übertrumpft werden. Das Publikum muss angeheizt werden, denn es entscheidet. Hesiods «besonders die Dicken» kommen das in Spiel: Der Rhapsode wirft seine linke Hand ins Kreuz, schiebt den dicken Bauch vor und streichelt ihn mit der rechten, wie eine in den letzten Wochen Schwangere. Und schon hat er die Matrosen und Männer von Stadt und Land in den Publikumsrängen im Sack, ohne die Ernsthaften und Strenggläubigen unter den Preisrichtern zu brüskieren. (õ,õ)


Nietzsche hat in einem Aufsatz im Rheinischen Museum für Philologie, Geschichte und griechische Philosophie (25; S. 528-540) die Ansicht vertreten, Homer und Hesiod hätten in Chalkis beide an einem Wettstreit teilgenommen. Es handelt sich um seinen Aufsatz „Der florentinische Tractat über Homer und Hesiod, ihr Geschlecht und ihren Wettkampf“. Erschienen ist der Aufsatz 1870 und gilt als eine der Vorarbeiten zur Geburt der Tragödie. Nietzsche hat darin auch Überlegungen angestellt, wie so ein Dichterwettbewerb vorzustellen ist. Ich schaue gleich mal nach, ob der Aufsatz im Netz verfügbar ist.
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Re: Auf dem Plateau der Musen

Beitragvon nauplios » Di 30. Apr 2024, 19:44

Hier hab ich was gefunden, leider werden manche Zeichen nicht richtig dargestellt:


Friedrich Nietzsche - "Der florentinische Tractat über Homer und Hesiod, ihr Geschlecht und ihren Wettkampf
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Re: Auf dem Plateau der Musen

Beitragvon Alltag » Mo 6. Mai 2024, 10:23

Besten Dank für den Literaturhinweis, Nauplios.

Soweit ich das verstanden habe, geht es Nietzsche nicht um die (Un-)Wirklichkeit sondern um die Form - oder wie ich meine – den Ablauf des Stechens am Dichterwettbewerb auf Chalkidis.
Die beiden Finalisten erhalten den Doppelauftrag, das Beste aus ihrem Leben und ihrem Werk vorzutragen, wobei die Spontanität des Vortrags bewertet wird.

Hesiod ist durch Losentscheid als erster dran und zitiert aus dem Repertoire seines Kontrahenten die besten Verse, allerdings im Konjunktiv. Doch plötzlich erinnert sich Hesiod an den Rat der Musen, nicht vom Möglichen zu reden, sondern vom Geschehenen, Seienden und Wirkenden. Daher flicht Hesiod seine Biographie aus dem Stegreif in die Versen über das Tagwerk bei der Feldarbeit und Seefahrt ein, um als dann das Wort mit einladender Geste seinem Kontrahenten zu übergeben, indem er den Doppelauftrag zitiert: Was aber ist für dich das Beste aus deinem Leben und Werk.
Sein Kontrahent anerkennt, dass ihm der Wind aus den Segeln genommen worden ist, gibt sich geschlagen und verabschiedet sich, indem er den Musen ein Loblied singt: Angesichts der von den Musen unterstützten, spontanen poetischen Brillanz Hesiods, wäre es sogar Homer nicht anders ergangen.

(Frei zusammengefasst durch Alltag)
Ich weiss, im Einzelnen steht’s nicht in der zitierten Publikation. Aber ich rundet das Ganze ab, sodass (i) der Platz der Biographie Hesiods in seinem Tagwerk plausibel ist, und sodass es egal ist, (ii) wer den Doppelauftrag formulierte und (iii) wer Kontrahent war, Hauptsache der Sieger wird über alles geehrt. (õ,õ)
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Re: Auf dem Plateau der Musen

Beitragvon Alltag » Mo 6. Mai 2024, 11:37

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Re: Auf dem Plateau der Musen

Beitragvon nauplios » Mo 6. Mai 2024, 19:49

Besten Dank für die beiden Links, Alltag. Ja, da liest sich der Text schon erheblich besser. Ich schau nachher mal nach, ob dieser Aufsatz von Nietzsche vielleicht auch in der „Kritischen Studienausgabe“ steht.
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